In diesem Blogartikel würde ich gerne mal die transformative Wirkung des Schreibens untersuchen. Denn eine Transformation ist es ja auch, wenn wir es schaffen, lähmende Zweifel hinter uns zu lassen, durch Selbstreflexion mehr Sicherheit oder Distanz zu gewinnen. Aber ich möchte auch – eher nebenbei – die Frage aufwerfen, ob es sich dabei wirklich um eine heilende Praxis oder um pure Magie handelt. Oder um irgendwas dazwischen …
Klar ist: Schreiben kann nicht nur als Mittel zur Selbstreflexion, sondern auch als Weg zur inneren Heilung fungieren. Ist es die Magie der Worte, die unsere Gedanken neu ordnet, oder ist es die Heilkraft des Ausdrucks, die uns befreit? Oder gibt es etwas DAVOR, eine Art „Schreibraum“, den wir unbedingt brauchen?
Heilkraft oder Magie? Die Kraft des Schreibens
Das Schreiben ist eine uralte Fähigkeit. Wer schreiben kann und konnte, hat immer schon den Instrumenten-Koffer seiner Kommunikationsfähigkeit erweitert, hatte zu allen Zeiten kraftvolle Werkzeuge der Selbstreflexion zur Hand. Genügt das allein schon, um von der „Heilkraft des Schreibens“ zu sprechen?
Mal ein Beispiel, das mehr als anderthalb Jahrhunderte alt ist: Der Kirchenlehrer Augustinus und seine „Confessiones“ – Bekenntnisse also. Augustinus galt als großer Rhetoriker, lebte (nacheinander) mit mehreren sehr jungen „Konkurbinen“ zusammen, war auch schon mal Mitglied einer „Straßengang“. Und dann begann seine Auseinandersetzung mit dem Glauben, dem christlichen Gott – und allem, wofür er steht. Augustinus sah sehr genau hin, in die Welt und auf seine Mitmenschen, in seinem Denken, Hadern, Zweifeln, Glauben. Das Schwierigste war natürlich die Sache mit Gott … Augustinus sagte, dachte und schrieb in seinen Bekenntnissen oft „Ich“. Kein rhetorischer Trick, sondern durchaus „Seelenhygiene“. Und die spiegelt sich in allem, was von ihm überliefert ist. So gelten seine Bekenntnisse als erste Autobiografie der Weltliteratur. Ganz sicher halfen die Schriften seinem Verfasser, sich zu orientieren, zu vergewissern. Und ich denke: Er lebte in ziemlicher Verunsicherung – allein die Religions-Definitionen waren zu seiner Zeit (etwa 350 – 430 nach Christis) fast schon inflationär. Was ist richtig, was falsch? Die Kraft des Schreibens scheint ihn von manchen Zweifeln befreit zu haben. Als Magie sah er das aber vermutlich nicht …
Und heute? In einer Welt, die von Hektik, Stress und viel zu vielen Informationen „von außen“ geprägt ist, kann uns das Schreiben einen Rückzugsort bieten. Einen Raum, in dem Gedanken geordnet und Emotionen verarbeitet werden können. Ein Raum, in dem wir uns Zeit nehmen, uns auf uns selbst besinnen, achtsam und zweifelnd, verwirrt und übervoll mit unsortierten Emotionen, Assoziationen, Bildern sein dürfen. Der einzige „Trick“ dabei ist eigentlich: Wir müssen uns das nur erlauben. Und manche Menschen erleben dabei tatsächlich schon eine Art „Magie“ … Schön, wenn die dann auch noch schriftlich festgehalten kann.
Das erlaube ich mir! Der „Schreibraum“
Wir können uns also schon mal merken: Das Unsortierte, Intuitive, Emotionale, Assoziative – das definiert den „Schreibraum“. WENN wir das zulassen. Kann manchmal schwierig werden, denn es bedeutet nicht selten auch eine Art Kontrollverlust.
Doch nicht jeder Mensch liebt diese Art Schreibraum … Viele suchen gleich zu Beginn schon Orientierung. Ist eigentlich auch gar kein Problem: Warum nicht erst einmal Listen machen, Strukturen definieren, Gliederungen erstellen? Und sich dann vielleicht innerhalb dieser – bitte selbst erstellten – Listen verlieren?
Ja, ich glaube: Sich – wenigstens ein bisschen – selbst „zu verlieren“, das ist nötig, damit sich die Heilkraft des Schreibens entfalten kann.
Aber bitte: Tun Sie immer nur das, was sich GUT für Sie anfühlt! Gestalten Sie Ihren „Schreibraum“ nur anhand dieses Gedankens.
Das Schreiben selbst ist nämlich erst der zweite Schritt. Kann sogar mehr oder weniger mechanisch geschehen … Auf Papier, am PC, per Diktiergerät – völlig egal. Wichtig ist, in welchen Raum Sie sich und Ihre Gedanken, Emotionen, Zweifel, Fragen, Wünsche platzieren. Vielen Menschen helfen bei dieser „Platzierung“ übrigens Rituale: immer morgens, direkt nach dem Aufwachen etwa. Oder ganz bewusst die Tatsache, eben keine Rituale zu initiieren, sondern immer gewappnet zu bleiben – egal, wann immer die Ideen, die Erkenntnisse, die minimalen Textpassagen kommen. Manchmal ist es ja nur ein einziges Wort …
Mit einer guten Bekannten habe ich übrigens mal von einer Duschwand fantasiert, die statt Kacheln eine beschreibbare Fläche hat. Und wo immer genügend Stifte bereitliegen … Auch diese Idee ist so ein „Schreibraum“: Ich wappne mich innerlich. Und die Worte dürfen kommen, wann und wie sie wollen.
Raum – Papier – Wort – Wir – unsere „Muster“
Entsteht aus diesen zwei Schritten schon „die Heilkraft des Schreibens“? Und wenn ja, wie genau entfaltet sie sich?
Zunächst lässt sich feststellen, dass das Niederschreiben von Gedanken und Gefühlen eine Form der emotionalen Entlastung darstellt. Fast alle Menschen erleben im Alltag eine Flut von Emotionen, sei es Freude, Trauer, Wut oder Angst. Oftmals bleibt wenig Zeit oder Raum, um diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das Schreiben ermöglicht es uns, unsere innersten Gedanken zu erfassen und sie auf eine Weise zu verarbeiten, die sowohl klärend als auch befreiend wirken kann. Wenn wir unseren Schmerz oder unsere Sorgen zu Papier bringen, schaffen wir Distanz zu den belastenden Empfindungen. Wir verwandeln also chaotische Emotionen in greifbare Worte und gewinnen so Kontrolle über sie.
Ein weiterer Aspekt der Heilkraft des Schreibens liegt in seiner Fähigkeit zur Selbstentdeckung. Durch das Schreiben können wir tiefere Einblicke in unser Wesen, unsere Entwicklung und Erinnerungen, kurz: unsere Persönlichkeit gewinnen. Indem wir Fragen stellen – sei es an uns selbst oder an die Welt um uns herum – fördern wir ein besseres Verständnis unserer Motivationen und Ängste. Tagebuchschreiben ist hierbei ein besonders wirkungsvolles Mittel: Es lädt dazu ein, regelmäßig innezuhalten und über persönliche Erlebnisse nachzudenken. Diese Praxis kann helfen, Muster zu erkennen und Verhaltensweisen zu hinterfragen.
Schreiben als Therapie?
Darüber hinaus hat das Schreiben auch therapeutische Qualitäten. Viele psychologisch ausgerichtete Angebote setzen beispielsweise „Expressives Schreiben“ gezielt als Therapie ein. Studien haben gezeigt, dass Klienten durch das schriftliche Festhalten ihrer Erfahrungen nicht nur emotional entlastet werden können, sondern auch physisch profitieren: Stresshormone sinken nach einer Schreibsitzung häufig signifikant. Dies verdeutlicht die Verbindung zwischen Geist und Körper – was wir denken und fühlen, hat direkte Auswirkungen auf unser körperliches Wohlbefinden.
Die Kraft des Schreibens erstreckt sich jedoch nicht nur auf individuelle Heilungsprozesse; sie kann auch Gemeinschaft stiften. In Schreibgruppen teilen Menschen ihre Texte miteinander und bieten sich gegenseitig Unterstützung sowie Inspiration. Solche Gemeinschaftserfahrungen vertiefen nicht nur soziale Bindungen, sondern fördern auch das Verständnis für andere Lebensrealitäten. Vom Lesen ganz zu schweigen … Jedes Buch bietet meiner Ansicht nach Einblick in eine ganz eigene, völlig individuelle Welt. Der – direkte oder indirekte – Austausch über persönliche Geschichten schafft ein Gefühl von Zugehörigkeit, das ist etwas sehr Wertvolles in einer zunehmend isolierten Gesellschaft.
Schließlich stimmt es manchmal auch, dass das Schreiben nicht nur heilsam ist – es kann auch transformative Kräfte haben. Manche Autorinnen und Autoren berichten , dass sie durch ihre literarischen Werke emotionale Blockaden überwunden oder neue Perspektiven auf ihr Leben gewonnen haben. Kreatives Schreiben eröffnet Räume für Fantasie und Innovation. Es ermutigt dazu, Dinge neu zu betrachten und Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme zu finden.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Heilkraft des Schreibens ist vielschichtig und facettenreich. Sie reicht von der emotionalen Verarbeitung über die Förderung der Selbstreflexion bis hin zur Schaffung gemeinschaftlicher Bindungen. Ob als Teil eines therapeutischen Prozesses oder einfach als persönliches Ventil – das Schreiben kann auch eine magische Qualität haben. Es gibt uns die Möglichkeit, unsere innere Welt auszudrücken, vielleicht Frieden mit uns selbst zu schließen oder Brücken zu anderen Menschen zu bauen.
Ganz besonders gilt das übrigens meiner Ansicht nach für all die Geschichten, die Kriegsenkel zu erzählen haben, Kriegsenkelinnen, die das lähmende Schweigen brechen …
In eigener Sache
Wer mich, meine Gedanken und meine Vielfalt besser kennenlernen möchte, dem empfehle ich die Trilogie des Eigensinns. Auch da geht es um die „Heilkraft des Schreibens“ – vor allem in Band zwei: „Wer schreibt, darf eigensinnig sein.“
Die Bücher lassen sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen. Macht Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte.
In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel:
In „Gelebter Eigensinn“ erzählen Menschen, wie das geht, Eigensinn zu entwickeln. Und ihn auch zu leben. Und wozu das gut sein kann. Es geht um Kunst, Mode, Ökologie und ein Autorennetzwerk, ein komplett plastikfreies, handgebundenes Buch, KI, Punk, Kühe, die documenta, Abfallvermeidung, das Älterwerden, Jobwechsel, Mut, Ekstase und Verantwortung, Glück und Coaching, höchst Individuelles und Gemeinschaftliches.
Alle Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo’s Bücher gibt.
Geschrieben von Maria Al-Mana.
Buchhebamme, Texthandwerkerin, Autorin. Freut sich über jeden Austausch. Mit euch. Und Ihnen.