Eine Besonderheit an der Situation von „Kriegsenkeln“ ist, dass sie jahrzehntelang mit dem Schweigen ihrer Eltern klarkommen mussten, sich darum nicht selten als „Nebelkinder“ sahen: „Der Nebel, mit dem ich das Klima umschrieb, in dem wir aufwuchsen, ist letztlich ein Produkt der Angst. Der Angst nämlich davor, selbst verschlungen zu werden, wenn man sich den Schrecken der eigenen Geschichte stellt. ‚Nebel‘ bedeutet zugleich Schutz und Hemmnis“, schreibt der 1961 geborene Theologe, Autor und Herausgeber Joachim Süss in dem Buch „Nebelkinder“, einer Anthologie mit dem Untertitel „Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte“, das er gemeinsam mit Michael Schneider herausgegeben hat.
Generationenübergreifend
Eine der ersten, die das Thema ganz persönlich, ausdrücklich eigensinnig subjektiv, belletristisch und biografisch aufgriff, war die 1970 geborene Sozialphilosophin, Psychologin und Autorin Katharina Ohana mit ihrem 2006 erschienenen „literarischen Lebensbericht“ unter dem Titel „Ich, Rabentochter“. Das Buch polarisierte stark. Kein Wunder. Wie noch heute häufig, versteht und verstand die Generation der „Kriegskinder“ nur langsam, was ihre Kinder da eigentlich umtreibt: „Ihr hattet doch alles, euch ging es doch gut! Emotionale Wärme, psychische Nähe, Vertrauen, Unterstützung – wer braucht denn so was?“ Doch genau dieses Fehlen von Nähe und Emotionen plus der Tatsache, dass viele Kriegsenkel jahrzehntelang hofften, ihre traumatisierten Eltern durch möglichst große Loyalität ‚heilen‘ zu können, dabei aber völlig den Blick auf die eigenen Bedürfnisse vergaßen, selten ein eigenes, stabiles emotionales Gleichgewicht entwickelten – das alles macht es so wichtig, dass die Kriegsenkel damit beginnen, ihr viel zu lang andauerndes Schweigen endlich zu brechen.
Je mehr Menschen anderer Generationen von all dem „Nebel“ erfahren, desto mehr wächst auch das Verständnis füreinander. Und zwar auch noch für nachfolgende Generationen.
Grenzübergreifend
Wer dieses Prinzip einmal verstanden hat, dem ist klar, dass kein Krieg niemals folgenlos bleiben wird. Ganz egal, wo auf der Welt Menschen Kriegstraumata entwickeln – sie werden Folgen haben. Und an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Nicht nur das. Durch Flüchtlingsströme sind solche Traumata immer schon quer in und durch die Welt getragen worden. Daran hat niemand Schuld. Es liegt in der Natur der Sache. Das lässt sich niemals verhindern, es kann nie und nirgendwo „eingedämmt“ werden. Hat noch nie funktioniert, wird auch in Zukunft nicht funktionieren.
Wie alle werden lernen müssen, mit den Geschichten der von Kriegen traumatisierten Menschen und deren Auswirkungen zu leben.
Besser also, wir beginnen so bald wie möglich, uns diese Geschichten zu erzählen! Daraus lässt sich sehr vieles lernen – nicht nur für die Erzählenden … Ihnen kann das Erzählen sogar Linderung, manchmal gar Heilung bringen. Aber auch jene, die solche Geschichten lesen oder hören, lernen viel dazu. Immer.
Eigensinn als Grundhaltung
Das Schreiben solcher Geschichten gehört natürlich klar in den Bereich der biografischen Arbeit. Und Eigensinn kann dabei allenfalls einer unter mehreren Bausteinen sein: zu langwierig, schmerzlich und aufwühlend ist dieser Prozess in aller Regel, als dass er ohne psychologische Hilfe/Begleitung absolviert werden könnte. Und doch: Ich denke, als Grundhaltung kann der Eigensinn auch dabei gute Dienste leisten.
Das betont beispielsweise die 1964 geborene Schauspielerin, Coach und Autorin Maria Bachmann deutlich. Von ihr stammt das Buch „Du weißt ja gar nicht, wie gut Du es hast. Von einer, die ausbrach, das Leben zu lieben.“ Darin schreibt sie unter anderem über ihre Generation: „Was für jeden [von uns] zählt, ist die gefühlte Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, wie wir sie erinnern. Sie ist es, die unsere Gegenwart und unsere Zukunft beeinflusst.“ Ich finde diesen Gedanken extrem wichtig, betont er doch die Notwendigkeit subjektiven Erinnerns.
Keine historische Betrachtung kann das jemals leisten. Auf den eigenen, ja: den eigensinnigen Blick kommt es an.
Auch Kathleen Battke (geboren 1959) und ihr Partner Thomas Bebiolka (geboren 1957) beschäftigen sich schon länger mit dem Erbe der Kriegsenkel. Und zwar vor allem in Form spezieller Schreibwerkstätten für eben diese Zielgruppe. In ihrem Aufsatz in der oben genannten Anthologie „Nebelkinder“ zitieren sie eine Teilnehmerin ihrer Schreibwerkstatt auf die Frage nach dem „Gewinn durch das Schreiben“: „Versöhnung und Frieden mit meiner eigenen Geschichte haben mich lebendig gemacht.“ So oder so ähnlich würden das vermutlich viele andere unterschreiben, die den – oft extrem mühsamen – Weg des Niederschreibens ihrer eigenen Kriegsenkel-Geschichte gegangen sind.
Eigensinn: subjektiv und aktiv
Der springende Punkt für mich ist dabei: Um sich auf diesen Weg machen zu können, muss der Eigensinn Ausgangspunkt, Anlass, Motivation sein. Nur durch die jeweils völlig subjektive, EIGENE Brille können wir in einem ersten Blick selbst erkennen, nicht selten schmerzhaft erleben, wo unser Weg uns hinführen will.
Denn es geht in diesem Fall um viel: oft genug um die Überwindung eines veritablen Traumas. Und da gilt ganz klar: Wenn wir uns entwickeln, schwierige, krankmachende Faktoren überwinden wollen, müssen wir selbst aktiv werden. Gelingen kann das erst, wenn jeder Kriegsenkel, jede Kriegsenkelin für sich geklärt hat: Was hat mich, was hat meine Familie geprägt? Natürlich liegen diesen Fragen gesellschaftliche Faktoren zugrunde. Wer die allerdings pauschal, passiv-distanziert in den Blick nimmt, kommt nie auf die Spur seines eigenen Lebens, kann nicht aktiv werden, bleibt im Diffusen, meist in einer passiv-schweigenden Haltung.
Das ist ja genau das, was fast allen Kriegsenkeln zum Verhängnis wurde: Was im Nebel des Schweigens liegt und liegen bleibt, wird früher oder später bedrohlich, macht fast unweigerlich krank. Und kann vor allem nicht aktiv bearbeitet, entwickelt, kreativ und/oder lebendig gemacht werden.
Die Kraft des Eigensinns
Darum ist aus meiner Sicht gerade die Literatur der Kriegsenkel ein klarer Beweis für die Kraft des Eigensinns. Schließlich mussten sich vor allem die ersten Autorinnen und Autoren dieser sehr speziellen, überaus wichtigen Literatur gegen Unverständnis, nicht selten gegen handfeste Anfeindungen durchsetzen. Sie taten ganz klar etwas, das ‚man nicht tut‘, waren nicht länger ‚loyal‘ im Schweigen über die schmerzhaften Erlebnisse ihrer Eltern. Und haben es dennoch getan, sind wirklich Wege gegangen, die niemand vorher betreten hat. Sie konnten es tun, weil sie eine ‚Mission‘ hatten, weil ihnen das Thema unter den Nägeln brannte. Sie MUSSTEN einfach darüber schreiben. Nur so konnten sie ihren eigenen Sinn finden. Und haben gleichzeitig vielen anderen Menschen damit geholfen, haben mögliche Wege zu ‚Heilung‘ und Versöhnung aufgezeigt.
Das gleiche gilt natürlich für Filme, Bildende Kunst und andere kreative Wege, die das Thema ins öffentliche Bewusstsein gebracht haben. Denn: Das Thema braucht dringend Öffentlichkeit, Austausch, Dialog, Kommunikation.
Kriegsenkel-Geschichten, ich und die Buchhebamme
Ja, auch ich bin Kriegsenkelin – davon erzähle ich ausführlicher in meinem privaten Blog, dem Unruhewerk hier.
Das Thema lässt mich nicht los. So habe ich – ebenfalls im Unruhewerk – auch einige Rezensionen zu Büchern von Kriegsenkel:innen geschrieben. Im Unruhewerk alle auf einen Blick hier.
Und: Kombiniert mit dem Eigensinn, verfolgt mich das Thema fast schon … Darum habe ich auch hier aus meinem ersten Band der Trilogie des Eigensinns zitiert. Heißt Mein Kompass ist der Eigensinn. Sollte euch dieser Text gefallen haben, gefällt euch vielleicht das Buch … Mehr darüber auf meiner Seite Mehr Eigensinn.
Guter „Background“ zum Bücherschreiben?
Tja, und nicht zuletzt bin ich die Buchhebamme. Nicht wenige meiner Kundinnen und Kunden kennen sich aus mit dem Thema … Sind selbst Kriegsenkelinnen, haben sich mit der transgenerationalen Weitergabe von Traumata beschäftigt … Aber beileibe nicht alle wollen das auch gleich noch in einem Buch thematisieren. Verstehe ich sehr gut. Ist nämlich alles andere als einfach.
Trotzdem: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir – als Kinder jener geboren, die während des Zweitens Weltkriegs selbst Kinder waren – mit diesem „Kriegs-Background“ eine ganz besonderen Hintergrund haben … Der kann uns für vieles sensibilisieren, nachdenklich machen, neue Bezüge herstellen, Überkommenes infrage stellen. Teile dieser Überlegungen spiegeln sich auch in meiner Definition von Eigensinn wieder. Diese Überlegungen sind oft sehr subjektiv, niemand muss sie teilen.
Und trotzdem, und trotzdem … Ich bleibe dabei: Wer so eine Kriegsenkel-Geschichte im Hintergrund hat, verfügt meiner Ansicht nach schon über einen recht guten Grundstock für das Schreiben eines eigenen Buchs.
Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Aber genau das ist vielleicht meine wichtigste Aufgabe: Ihnen dabei zu helfen. Denn ich weiß, worum es da geht, was auf dem Spiel stehen kann. Und vor allem weiß ich, WIE es geht.
Und nie vergessen: Wenn Kriegsenkel:innen erzählen wollen, kann Eigensinn helfen!