Manchmal liebe ich die „roten Fäden“, die sich in meinem eigenen Leben zeigen … Buchhebamme bin ich jetzt seit gut fünf Jahren. Doch mehr als 30 Jahre zuvor sehe ich mich bereits als Kreativitäts-Dolmetscherin in einer Galerie stehen. Einer sehr angesagten Galerie.

Wir schreiben 1990-nochwas, das Jahrzehnt, das zumindest teilweise noch vom Boom der modernen, wilden Kunst der 80er Jahre in und aus Deutschland profitiert. Mein Chef ist einer jener Galeristen, die in dieser Zeit zu den Stars der Kunstwelt zählten – und zwar völlig zu Recht: Hans-Jürgen Müller, Mitbegründer der Art Cologne, Autor des Buchs mit dem viel zitierten Titel „Kunst kommt nicht von Können“. Wie geben gemeinsam Ausstellungskataloge heraus, verleihen Förderpreise an herausragende Künstler, werden 1992 von Jan Hoet auf die documenta IX eingeladen… Kurz: Wer bei Hans-Jürgen Müller ausstellt, hat ziemlich gute Chancen, als Künstler bekannt(er) zu werden.

Von Eigensinn zu Kreativitäts-Dolmetscherin

Müller liebt seine Arbeit, ist einer der wenigen Galeristen, die sich vollkommen in den Dienst ihrer Künstlerinnen stellen können, stellen wollen. Denn er bewundert den Mut all jener, die bedingungslos für und mit Kunst arbeiten. Und ist damit der perfekte Matching-Partner für alle Künstler: selbst ist er Galerist, Grafiker und Schriftsetzer. Das hat er gelernt, seine Rolle aber sieht er immer als Vermittler.

Vieles davon lerne ich von ihm, bei andrem muss ich passen … Meine Handschrift zum Beispiel, die findet er schrecklich. Meine Buchstaben seien so ungleichmäßig, ich solle üben, findet er. Versuche ich. Und beschließe: Ne, so wie sie ist, gehört sie zu mir …

Noch so ein roter Faden .. Das war ganz sicher ein Hinweis auf meinen Eigensinn. „Schön“ zu schreiben, schien mir noch nie sinnvoll.

Die Einschätzung von Kunst

Anderes ist schlicht un-lernbar. Die Einschätzung von Kunst zum Beispiel. Da kann man nur beobachten, reflektieren, aufnehmen. Und dann muss was passieren …  Wie im Schwimmbad: Verdammt, wie springt dieser Mensch nur immer so sicher vom Zehnmeterbrett?! Ich kann das nicht!! O doch! Denn eines Tages schubst Müller mich ins kalte Wasser. Einfach so.

Hans-Jürgen Müller hatte ein fabelhaftes Bauchgefühl, einen „Riecher“, ein „Näschen“ – wie immer man das nennen mag. (Er ist leider bereits 2009 gestorben.)

Im Gespräch oft polterig, waren seine Bauchentscheidungen – wenn es um Kunst ging – fast immer Volltreffer. Mitten ins Schwarze, ins Herz des Zeitgeschmacks oder ihm voraus, oft mitten ins Hertz der Menschen. Nie geschmäcklerisch, er liebte oft das Neue, nie auf diese Weise Gesehene. Das war es, was er auswählte, was er unterstützte. Kunst, die genau das tut, was Kunst meiner Ansicht nach immer tun sollte: Menschen auf eine rational kaum fassbare Weise zu berühren. Und vor allem: Was er ausstellte, war immer in sich stimmig. Schwer zu erklären, war aber so.

Hör dir selbst gut zu!

Also: erst Bauch, dann Kopf, dann: Raus mit der Sprache! Dazwischen ganz viel Herzklopfen. Genau das habe ich bei ihm gelernt. Und das versuche ich heute auch, an (angehende) Autorinnen und Autoren als Buchhebamme weiterzugeben. Das sehe ich durchaus oft als Leistung einer Dolmetscherin. Denn: Egal ob Bildende Kunst oder der Text für ein Buch: Beides spricht mit uns. Wie müssen gut hinhören können. Kann ich. Und: Wir müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Das war unter anderem meine Lern-Einheit bei Hans-Jürgen Müller: Ich bin in der Lage, solche wichtigen Dinge zu entscheiden

Denn damals, in Müllers Galerie war ich unvermutet und plötzlich mitten in einem existentiell wichtigen Test gelandet, dessen Lektion ich bis heute nicht vergessen habe:

„Hör dir selbst gut zu! Entscheide mit dem Bauch, pass auf, dass der Kopf mit seiner angeblichen Vernunft nicht kaputt macht, was du besser wissen solltest! Und entscheide so, dass du für deine Entscheidung die Verantwortung übernehmen kannst.“

Ich hatte wirklich Schiss. Dass ich was Falsches sage. Falsch für mich und falsch für den armen Künstler, der da fast zitternd wartete. Denn Müller hatte das alles entscheidende Urteil an mich delegiert: Taugen die Bilder, die der junge Mann uns da – im wahrsten Sinn – zu Füßen gelegt hat, was? Soll ich ihn ausstellen? Oder schicken wir ihn wieder nach Hause, ohne Ausstellungsvertrag?

Müller stand daneben – Pokerface. Von ihm war da gar nichts zu erwarten. Die Entscheidung lag bei mir, allein bei mir.

Entscheidungen kennen kein „vielleicht“

Schließlich sagte ich JA. Und meinte es genau so. Kein „vielleicht“, kein „Ich glaube…“ Ich spürte und wusste: Es ist richtig. Und es WAR richtig. Später bekam eben dieser Künstler den Hans-Jürgen-Müller-Förderpreis aus den Händen und mit einer Laudatio von Bazon Brock.

Und noch später schnappte sich Jan Hoet bei seinem Besuch in unsrer Galerie exakt jene Zeichnungen eines andren, unbekannten Künstlers aus einem riesigen Werk-Konvolut, die ich vorher (aus ganz anderen Gründen) als beste Arbeiten zur Seite gelegt hatte – die gingen direkt in die documenta IX.

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Am Strand von Oostende steht diese Hommage an Jan Hoet von Kris Martin. Inzwischen lebe ich (teilweise) in Oostende. Und dem großartigen Jan Hoet bin ich in der Galerie von Hans-Jürgen Müller begegnet. Foto: privat, die Buchhebamme

Glück gehabt?

Diese Episode aus der Galerie erzähle ich ziemlich oft. Weil sie mich geprägt hat. Und das ging nur darum, weil ich – wenn auch mit einiger Verspätung – ihre Bedeutung erkannt, sie als wichtigen Lernschritt ernst genommen habe. Ich habe eben nicht gedacht: „Glück gehabt! Zufällig die richtige Entscheidung getroffen …“

Nein, ich glaube:

Entscheidungen bedeuten etwas. Kunst bedeutet etwas. Bücher bedeuten etwas.

Und für all dieses „etwase“ haben wir Verantwortung. Ich zumindest habe sie – weil ich es kann. Denn ich verstehe viel zu oft, was mir das alles sagen will, als dass ich es einfach so stehen lassen könnte. Unkommentiert, ohne Entscheidung, ohne – ja: ohne „Hinwendung“. Selbst, wenn es eine Ablehnung geworden wäre, hätte ich mich mindestens einmal gründlich damit auseinandergesetzt. Und ich finde. Das verdienen wir alle, jedes Kunstwerk, jedes Buch.

Ja: Ich habe gelernt, wie die Kunst mit mir kommuniziert. Hab ihre Sprache gelernt, höre, was sie mir sagt. Und ich kann das in Worte fassen … Seitdem sehe ich mich unter anderem als Dolmetscherin. Übersetzerin für all jene, deren Sprache aus ganz anderen Medien und/oder Mitteln als aus Worten besteht … Denn Sprache ist und bleibt mein Metier.

Die Rolle einer Dolmetscherin

Inzwischen bin ich mehr als einmal ins kalte Wasser gesprungen … und möchte nach wie vor vermitteln: zwischen Menschen unterschiedlichster Sprach-Ansätze, zwischen gedachtem, gesprochenem und geschriebenem Wort, zwischen Gemaltem und Geträumtem, zwischen Notwendigkeit, Wissen, Ahnung, Neugierde und Leidenschaft. Irgendwie sitze oder stehe ich immer zwischen den Stühlen/Welten – und finde: Für eine „Dolmetscherin“ ist das die optimale Position. Für eine Buchhebamme auch.

Ich liebe es einfach, wenn Dinge zusammenfinden, die – meinem Bauchgefühl nach – zusammen gehören … Auch, wenn das außer mir auf den ersten Blick vielleicht gar niemand sieht. Dann übersetze ich es eben.


Die Trilogie des Eigensinns

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Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch. Und trotzdem hat dieses Buch ganz klar im Untertitel stehen: „kein Schreibratgeber“. Damit möchte ich klarmachen: Mit dem „Gießkannenprinzip“ sollte hier nicht gerechnet werden!
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.


 

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