Selbstbestimmung, Fluch, Chancen, Entwicklungslinien, Älterwerden, Akzeptanz … Mir schwirrt der Kopf. Was für ein aufregendes Thema die Frage nach der Soloselbstständigkeit doch sein kann! Danke für die Einladung zu dieser Karussellfahrt, Sascha Theobald! #WirSindSolo. Ja, es ist eine Webparade – mit vielen spannenden Einblicken und Überlegungen. Mitmachen geht übrigens auch noch. Mehr darüber hier.
Etwa 30 Jahre meines Arbeitslebens war ich angestellt, rund 15 Jahre soloselbstständig. Früher war ich – vor allem als Selbstständige – überzeugt: Frechheit siegt. Heute bin ich als Buchhebamme einzigartig. Dazwischen liegen die verschiedensten Entwicklungslinien … Ich erlebe die Soloselbstständigkeit als Tanz zwischen Extremen. Muss man mögen. Und vor allem aushalten können.
Entwicklungslinien zwischen Extremen
Eins meiner Extreme: Meinen letzten Angestelltenjob habe ich nach Mobbing und zwei schweren Krankheiten freiwillig-unfreiwillig selbst beendet. Den Mut dazu hatte ich unter anderem deshalb, weil ich 15 Jahre zuvor schon mal soloselbstständig war. Damals komplett freiwillig, total begeistert – das war die Phase meiner Überzeugung: „Frechheit siegt!“ Doch leider lässt sich – vor allem im kreativen Bereich – selten von einem Job allein leben … Ich war Texterin, Layouterin, Lektorin, Redakteurin, Fotografin, Anzeigengestalterin und Lokaljournalistin – und zwar alles zur gleichen Zeit. Das habe ich gut fünf Jahre durchgehalten, danach sehnte ich mich in die Sicherheit einer Anstellung zurück.
Der Start in meine zweite Soloselbstständigkeit war komplett anders: Ich war schon über 50, noch immer leicht krankheitsgebeutelt und versuchte es ein halbes Jahr lang erst mal mit einem Bewerbungs-Marathon. Keine Chance. Also „Plan B“: zurück in die Soloselbstständigkeit. Ist jetzt neun Jahre her und entwickelte sich zu dem, was ich mittlerweile die weltbeste Entwicklungschance nenne.
Ich glaube, es geht genau darum, die eigene Entwicklung zuzulassen. Davon möchte ich hier erzählen.
Selbstverantwortung
Mich haben vor allem Krankheiten gelehrt, wie unabdingbar es ist, die Verantwortung für mich zu übernehmen. Auch und gerade in beruflicher Hinsicht. Das ist der vielleicht größte Pluspunkt der Soloselbstständigkeit: Ich kann, darf und sollte genau jene Entwicklungswege suchen, die für mich sinnvoll sind. Entdeckungen, die nur ich – auf diese Art – machen kann, in meinem Rhythmus, mit ganz individuellen Schwerpunkten. Gibt Selbstvertrauen, zeigt meine Vielseitigkeit, kann regelrecht heilsam sein. In meinem Fall war es so. Okay, ein wenig Mut, viel Neugierde und ein bisschen Abenteuerlust sind auch nützlich.
Der wichtigste Punkt war das Selbstvertrauen – besser: das Vertrauen in die Fähigkeiten, die ich immer schon hatte und in jene, die ich neu entwickelt habe. Das konnte nur darum wachsen, weil ich allein der Maßstab für dieses Wachstum war. Dazu gehörte für mich:
- mich nicht (oder nur sehr, sehr selten …) mit anderen zu vergleichen
- meinen eigenen Sinn zu definieren, ihm zu folgen. Manchmal sage ich auch: meinen Werten zu folgen
- meinen individuellen Arbeitsrhythmus zu finden, ihn in die notwendigen Routinen einzubauen
- jeden Tag neu zu fragen: Wie geht es weiter? Passen meine Angebote noch – zu Kundschaft, Markt, Bedürfnissen – und mir?
- Nein sagen zu lernen. Ohne, dass es mir oder anderen wehtut
- zu den Fehlern zu stehen, die ich – wie jeder Mensch – unweigerlich machen werde.
Ich weiß, wie schwierig, oft sogar unmöglich all das in einem Angestelltenverhältnis umzusetzen ist. In meiner Soloselbstständigkeit ergab es sich fast von selbst. Mehr noch: Es wurde zu einem Prozess, der sich ganz natürlich in und mit meiner Arbeit entwickelt hat. Selbstverantwortung wurde irgendwann zu einem Prinzip, über das ich kaum noch nachdenken musste.
Netter Nebeneffekt: Auch mein Alter spielt inzwischen nur dann noch eine Rolle, wenn ich es thematisieren will. (Will ich häufig …) War vorher nicht so.
Sichtbarkeit und Positionierung
Soloselbstständige können sogar den in SoMe so abgelutschten Begriff der Sichtbarkeit für sich definieren … Geht für mich folgendermaßen:
- Erst mal mache ich mir klar, dass Soloselbstständigkeit an sich schon ein Pleonasmus ist … doppelt gemoppelt, weißer Schimmel oder so.
- Also nehme ich besser mal die Wortbestandteile auseinander: selbstständig bedeutet Selbstverantwortung – siehe oben. Solo steht für das menschliche Individuum. Ja, das kann allein daherkommen. Tut es aber eher selten. Und macht allein extrem wenig Sinn, wenn es auf der Suche nach Kund:innen ist.
- Ergo: die Sichtbarkeit einer Soloselbstständigen besteht für mich aus einer Ansammlung von Individuen – in Netzwerken (meine zwei Homebases: der textreff.de und der Verband freier Lektorinnen und Lektoren. Tausend Dank an euch!) Oder auch in der Präsentation meiner Liste der Bücher, die ich von A bis Z als Buchhebamme betreut habe.
„Solo“ bedeutet für mich auch die relativ extreme Entscheidung, dass ich als Einzelunternehmerin am liebsten für Einzelmenschen arbeite. War nicht von Anfang an so. Okay, Agenturen, Redaktionen etc. können auch heute noch Kunden sein. Lieber ist mir aber das Empfehlungsmarketing von Mensch zu Mensch. Funktioniert zunehmend besser, ist allerdings eine arge Geduldsprobe. Die ich mich am Anfang meiner Selbstständigkeit nie als Ziel zu definieren getraut hätte. Auch das also: eine Entwicklungslinie.
So wenig ich – außer dem Steuerberater – Menschen engagiert habe, so wenig habe ich je Anzeigen geschaltet. Auch das gehört für mich zum „solo“: Ich stehe für mich und meine Arbeit, Abhängigkeiten mag ich nicht.
(Für alle Nicht- Soloselbstständigen: Finanziell gesehen, ist diese Variante natürlich das denkbar größte Risiko. Und aus juristischer Sicht: Würden alle Soloselbstständigen so denken, wäre das leidige Thema „Scheinselbständigkeit“ komplett hinfällig.)
In Bezug auf meine Sichtbarkeit bedeutet das auch: Ich stehe fast immer allein mit meiner Person für meine Arbeit ein. Da ist nichts und niemand, hinter dem ich mich „verstecken“ könnte.
Ich sehe meine Sichtbarkeit aber auch in der Entscheidung, welche Entwicklungslinien ich öffentlich machen möchte. Das mindert für mich ein bisschen dieses Solo-Einstehen für meine Arbeit … Andersrum gesagt: Ich positioniere mich unter anderem auch über meine eigene Entwicklung. Dafür stehen zum Beispiel meine fünf Webseiten: www.buchhebamme.de & www.texthandwerkerin.de & www.mehreigensinn.de & www.edition-texthandwerk.de & www.unruhewerk.de.
Die Texthandwerkerin war die erste Station. Inzwischen ist die Buchhebamme weit wichtiger geworden. Und da greift wieder das Selbstbewusstsein, das ich im Lauf der Zeit entwickelt habe: Die Buchhebamme ist eine geschützte Wortmarke. Damit bin ich einzigartig – das macht mich stolz.
Grenzen und Chancen
Als Chancen sehe ich all das, was ich schon beschrieben habe: mein persönlicher Weg, das immer Weiter-Gehen, Nein-sagen-Dürfen. Kurz: Alles, was dabei hilft, Selbstverantwortung zu entwickeln. Und zu bewahren. Dazu zählt nicht zuletzt auch das Älterwerden.
Die Sache mit dem Älterwerden ist vielleicht die größte Chance der Soloselbstständigkeit: Alter bedeutet eben gerade keine Grenze. Ich kann und darf problemlos so lang arbeiten, wie ich will.
Meine derzeitige Haupt-Grenze als Kreativ-Werkerin liegt beim Einsatz von KI. Da steht für mich fest: Ich will nicht in einen Ozean springen, der meine Selbstverantwortung aufheben könnte. Mal wieder eine ganz persönliche Entscheidung. Die ich treffen darf – vielen angestellt arbeitenden Menschen bleibt die verwehrt. Ich muss mich nicht mitreißen lassen von der KI-Begeisterung, die ich fast überall sehe. Das tue ich – wie alles – auf eigenes Risiko. Und bin jetzt einfach nur gespannt, wie sich das entwickeln wird. Wenn ich eines Tages weit und breit die einzige alte, KI-lose Textarbeiterin sein sollte, wäre das schließlich auch ein Alleinstellungsmerkmal …
Meine Entscheidung, mein Risiko. Soloselbstständige können und dürfen so was.
Mein Eigensinn
Dass ich letztlich über die Entwicklungslinien meiner Selbstständigkeit zu MEINEM Thema fand, ist das Highlight dessen, was ich hier beschreibe.
Erstens brauchen gerade Soloselbstständige einen Roten Faden – einen, der zu ihnen passt. So was gibt es nicht „von der Stange. Es ist hoch individuell, also sollten wir es selbst entwickeln. „Mein Kompass ist der Eigensinn“, heißt darum der erste Band meiner Trilogie des Eigensinns.
Und weil ich nun mal von dem leben will, was ich entdeckt habe, teilen und weitertragen kann, habe ich Eigensinn und (Bücher-)Schreiben in Band zwei zusammengebracht: „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“. Zuguterletzt wollte ich das alles noch mit Praxisbeispielen anreichern: „Gelebter Eigensinn“ besteht aus Interviews, Positionen und Stimmen unterschiedlichster Menschen.
(Alle Bücher auf einen Blick? Hier.)
Damit sehe ich mich in der Rolle jener Menschen, die (auch) eigensinnig im Dienst von anderen stehen. Denn all das, was ich in der Entwicklung meiner Selbstständigkeit entdeckt habe, möchte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten anderen weitergeben. Natürlich nur, wenn es ihnen nützt.
Ich bin davon überzeugt, dass der Eigensinn sehr viele, oft unterschätzte, unerwartet nützliche Seiten hat.
Die Entwicklung solcher Gedanken wäre unmöglich gewesen, hätte ich nicht erneut den Weg in die Soloselbstständigkeit eingeschlagen. Denn auch ein gewisses Maß an Selbstreflexion gehört meiner Ansicht nach zur Soloselbstständigkeit. Die führte mich zum Eigensinn. Was mir also meinen „Roten Faden“ lieferte, ist inzwischen Teil meines Angebots. Passt!
Auch der Eigensinn ist ein Prozess, der niemals endet. Wenn wir ihn ernst nehmen, führt er uns immer weiter voran. Wie mich meine Selbstständigkeit. Anders gesagt: Wir entwickeln uns in und mit unserer Arbeit. Ja, das können Angestellte (manchmal) auch. Aber selten wirklich in ihrem Tempo und/oder mit dem, was für sie, völlig individuell, Sinn macht. Genau das aber bedeutet für mich auch: Eigensinn.
Grenzen verschieben sich, Ansprüche, Ziele, Arbeitsbereiche, Arbeitsmethoden ebenso. Da geht es uns Soloselbstständigen nicht anders als angestellt Arbeitenden. Nur haben wir eher die Chance, uns dabei nicht selbst aus den Augen zu verlieren.
Veränderungen sind immer eine Herausforderung, das wissen wir alle. Nicht selten bleibt dabei die individuelle, selbstverantwortliche Perspektive als Erstes auf der Strecke. Das ist schlecht, kann uns krank machen, in den inneren Rückzug treiben. Soloselbstständige haben da meiner Erfahrung nach viel größere Chancen, korrigierend einzugreifen als angestellt Arbeitende.
Akzeptanz
Ja, die gesellschaftliche – und damit politische – Akzeptanz der Arbeit von Soloselbstständigen wird nicht besser … Das sehe ich leider auch. Als Lösungsansatz habe ich da zwei Punkte:
Unter Soloselbstständigen ist es ein Privileg, in der Künstlersozialkasse zu sein. Ich darf das und bin dafür sehr dankbar. Aber es ist ungerecht … Könnte doch eigentlich ganz simpel sein, dieses Modell für alle Berufsbereiche zu übernehmen, in denen es Soloselbstständige gibt! Warum nur in „künstlerischen“ Berufen? Damit würde die Arbeit aller Soloselbstständigen einen großen Akzeptanz-Schub erfahren.
Zur Erklärung: Es geht um die Übernahme der Hälfte der Kosten für Krankenkassen- und Rentenbeiträge, also um das, was bei Angestellten der Arbeitgeber tun sollte.
Mein zweiter Punkt ist die Akzeptanz der Soloselbstständigkeit aus ganz persönlicher Sicht. Als Chance, die wir wahrnehmen können. Davon wollte ich hier vor allem schreiben. Meine Hoffnung ist, dass wir damit anderen Menschen Mut machen. Damit dieses Arbeitsform nicht nur erhalten, sondern eine echte Option bleibt. Eine Option für alle, denen Selbstbestimmung etwas bedeutet.
Und – wieder ganz persönlich: Ich glaube, wenn möglichst viele Menschen selbstbestimmt leben und arbeiten, tut das der ganzen Gesellschaft gut … Denn:
Eine Scheiß-egal-Haltung verträgt sich definitiv nicht mit dem, was Soloselbstständige tagtäglich leisten …
In eigener Sache
Wer meinen Ansatz des Eigensinns besser kennenlernen möchte, dem empfehle ich meine Buch-Trilogie. Alle drei Bücher lassen sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen. Macht Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte.
In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
In „Gelebter Eigensinn“ erzählen Menschen, wie das geht, Eigensinn zu entwickeln. Und ihn auch zu leben. Und wozu das gut sein kann. Es geht um Kunst, Mode, Ökologie und ein Autorennetzwerk, ein komplett plastikfreies, handgebundenes Buch, KI, Punk, Kühe, die documenta, Abfallvermeidung, das Älterwerden, Jobwechsel, Mut, Ekstase und Verantwortung, Glück und Coaching, höchst Individuelles und Gemeinschaftliches.
Alle Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo’s Bücher gibt.
Alle Inhalte