„Ui, was bist du eigensinnig!“ Wer so einem Ausruf begegnet, wird vielleicht einen Sekundenbruchteil lang zögern und sich fragen: „War das jetzt ein Vorwurf – oder ein Kompliment?“ Natürlich kommt es auch auf Kontext und Tonfall an, die diesen Satz begleiten. Aber Fakt ist: Beides ist möglich, Vorwurf wie Bewunderung.
So ein Ausruf kann bedeuten: Du bist egoistisch. Oder rücksichtslos, stur, unbelehrbar, eine einsame Wölfin außerhalb jeder Gemeinschaft, ein starrsinniger Wolf, unbeirrt allein unterwegs. Oder er knüpft an das an, was Udo Lindenberg meint, wenn er singt: „Ich mach mein Ding!“ Dann kann der Satz bedeuten: „Du schaffst es, deinen Weg zu finden und zu gehen, aufrecht, selbstbestimmt und selbstbewusst.“
Wer so gesehen wird, ist selten Teil des Mainstreams, folgt nicht blindlings dem, was ‚alle sagen‘, denken oder tun. So ein Mensch hat sich seine Urteilsfähigkeit erhalten oder (zurück)erobert, ist kaum von Massenphänomenen verführbar, folgt der eigenen Stimme.
Und wohin führen uns diese Überlegungen, wenn wir Eigensinn und das (Bücher-)Schreiben zueinander in Bezug setzen? Um es vorweg zu nehmen: Für das Schreiben von Büchern und anderen Texten ist Eigensinn ein wunderbar nützliches Instrument.
Bleibt die Unsicherheit, die ich eingangs erwähnt habe: Vorwurf oder Bewunderung? Ist Eigensinn etwas Gutes oder Schlechtes? Warum ist der Begriff so unscharf, lässt so viele widersprüchliche Deutungen zu? Dem will ich mit diesem Buch auf die Spur kommen: Wo hat der Eigensinn seine historischen Wurzeln, seine philosophischen und literarischen Ankerpunkte? Wer nutzte ihn im europäischen Geistesleben schon, wie und wozu? Wer schätzte den Eigensinn – und warum? Ist er denn überhaupt nützlich – und wenn ja, wofür? Welchen anderen gedanklichen Ansätzen ist er verwandt, welchen eher nicht? Das sind die Fragen, um die es hier gehen wird. Ich werde stellenweise viel zitieren. Das hat vor allem den Zweck, dass ich Ihnen gern Mut zum Eigensinn machen möchte. Ja: Ich bin davon überzeugt, dass Eigensinn etwas Gutes ist.
Außerdem denke ich: Wer positive, anregende, eigensinnige Vorbilder, Vor-Denker/innen und/oder gedankliche Modelle des Eigensinns kennt, kann vermutlich mit den Resten von Vorwurf im „ui, was bist du eigensinnig!“ besser umgehen. Jedenfalls wünsche ich das mir und Ihnen. Denn einer der wichtigsten Gründe, aus denen ich dieses Buch schreibe, ist die Frage: Wie können wir uns gegen diese Reste von Vorwurf wappnen? Da fand ich bislang kaum etwas ermutigender als mein Gespräch mit einem Ex-Kollegen, dem ich von meinen Buchplänen erzählte. Ich hatte ihn mehr als zehn Jahre nicht gesehen – und in dieser Zeit hatten wir beide uns durchaus verändert. Nachdem ich viel von meinen Projekten erzählt hatte, sagte er: „Wenn ich dir so zuhöre, ist völlig klar, dass kaum ein Thema besser zu dir passt als der Eigensinn.“ Das war für mich ein dickes Kompliment. Seitdem perlen scherzhaft-vorwurfsvolle Einwürfe zu meinem Eigensinn anderer Menschen – denen ich natürlich ständig von MEINEM Thema erzähle – regelrecht an mir ab.
Erstes Zwischenfazit also: Seit ich täglich mehr über den Eigensinn im Allgemeinen und meinen Eigensinn im Speziellen lerne, kann ich immer besser mit diesen Resten an ‚Vorwurf‘ umgehen – für mich ein sehr gutes Gefühl. Und genau das möchte ich mit Ihnen teilen.
Darum werden hier die Grundlagen des Eigensinns erkundet, seine Geschichte, seine Auswirkungen und Anwendungsmöglichkeiten. Immer eng verknüpft mit der Frage: Wie kann der Eigensinn mir helfen? Zum Beispiel beim Schreiben von Büchern. Wie hat er anderen Autorinnen und Autoren schon geholfen? Und wie können wir den Eigensinn mit all seinen Wirkungsweisen möglichst klar definieren? Ich werde quer durch Zeiten und Literaturgattungen springen … Ein guter Kompass muss schließlich alle Windrichtungen erfassen können. Damit das alles nicht zu theoretisch wird, nehme ich Sie immer wieder mit auf den Weg zur Erkundung des Eigensinns und frage spielerisch: „Wie eigensinnig sind Sie eigentlich?“
Nicht ganz unwichtig sind die Einschränkungen, die ich mir für dieses Buch auferlegen musste. Zum einen: Sicher kommt der Eigensinn des Schreibens auch in Liebesromanen, Krimis, Thrillern, Science-Fiction-Literatur und Co. vor. Ich nenne viele Beispiele für eigensinniges Schreiben, doch die meisten der soeben genannten Genres werden Sie vergeblich suchen. Ich konzentriere mich zum einen auf das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Schreibvorgang, also auf gewisse biografische Aspekte. Und beschäftige mich mit Formen, Genres, Regeln und Erwartungen – vor allem dann, wenn sie hinterfragt oder gar ‚gebrochen‘ werden.
Noch gravierender ist die zweite Einschränkung: Eigensinnige Autorinnen und Autoren geben laut meiner Definition absolut nichts auf herrschende Meinungen, Regeln oder Vorschriften. Dann sind ja wohl alle Autorinnen und Autoren, die in autoritären Regimes trotz aller Verbote genau das schreiben, was sie schreiben wollen, meist schreiben müssen, hundertprozentig eigensinnig. Sie schreiben, weil ihr Gewissen, ihre Erfahrungen, ein Impuls, ihre Haltung sie regelrecht dazu drängen. Ja, sie sind ganz sicher eigensinnig, man kann sogar sagen: Sie leisten mutigen Widerstand. Sie kommen hier dennoch nicht vor. Denn in einer derartigen Konstellation müssten meiner Ansicht nach auch die Umstände, die zu einer Einschränkung der geistigen Freiheit führen, thematisiert werden. Plus aller Möglichkeiten, die schreibende Menschen haben, darauf zu reagieren und natürlich der für sie daraus resultierenden Konsequenzen. Das kann ich hier schlicht nicht leisten. Aber ich möchte meine ausdrückliche Hochachtung vor allen Menschen betonen, die unter derart schwierigen Bedingungen an ihrem Eigensinn festhalten. Ich weiß: Es gibt sie. Und ich bewundere sie zutiefst.
So weit, so gut. Ende des ersten Kapitels.
Das Buch, kurz anhand der Fragen erzählt, die ich mir stelle
Was folgt, sind Deklinationen des Eigensinns unter allen nur erdenklichen Perspektiven
- Was ist ein eigensinniges Buch? Merkmale, Beispiele …
- Warum glaube ich Hermann Hesse, wenn er behauptet „Eigensinn macht Spaß“?
- Wie eigensinnig sind Erinnerungen?
- Was zeichnet eigensinnige Autor/innen aus?
- Wie lässt sich Eigensinn von anderen Begriffen wie Individualität, Exzentrik, Authentizität oder Souveränität abgrenzen oder wo gibt es Berührungspunkte?
- Was hat es mit dem „Geistesblitz“ auf sich?
- Sind der berühmte „Flow“ und der Eigensinn verwandt?
- Wie kann uns Eigensinn beim Schreiben helfen?
- Warum ist Eigensinn eine Präventionsstrategie gegen Depression und Burnout sowie der beste Weg zu einem selbstbestimmten Leben?
- Was haben Kreativität, Philosophie und Eigensinn miteinander zu tun?
- Was hat es mit dem Eigensinn der Dinge auf sich?
- Wie kann Eigensinn zu einem besseren Verständnis von uns selbst wie auch untereinander beitragen?
- Haben das Älterwerden und der Eigensinn etwas miteinander zu tun?
- Und immer wieder: Wie eigensinnig sind SIE eigentlich?
Die Widmung des Buches lautet
„Für alle, die anders sind. Wir sind viele.“
Interesse? Weiterlesen? Gern!
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