Seit Jahren schon schlage ich mich mit dem Begriff „Eigensinn“ rum. Die Herausgeberin von „Psychologie Heute“, Diplom-Psychologin Ursula Nuber, hat dazu ein Buch geschrieben. Quintessenz, in meinen Worten: Wer nicht wenigstens ab und zu eigensinnig ist, wird immer Verliererin bleiben. Aus meiner Sicht betrifft das Phänomen nämlich vor allem Frauen. Die sich immer fragen: „Wie kann ich es ALLEN recht machen?!“ Die sich anpassen, immer leiser und trauriger werden. Darum ist – absolut passend – der Untertitel des Buches: Eigensinn – „Die starke Strategie gegen Burn-out und Depression – für ein selbstbestimmtes Leben.“ (Bestellen? Hier.) So berechtigt all diese Gedanken einerseits sind, so stößt es mir andererseits doch ein bisschen auf, dass es da – mal wieder – genau genommen um nichts weiter geht als eine weitere Variante der verflixten Selbstoptimierungsversuche.
Dieses eigensinnig-einzigartige Strahlen
Aber wie war das mit der „Verliererin“? Vielleicht sollte ich sagen, dass eine „Verliererin“ sich für mich absolut nicht über den Kontostand sondern durch ihre Ausstrahlung – im wirklich allerweitesten Sinn – definiert. Beziehungsweise eben durch das Fehlen dieses eigensinnig-einzigartigen Strahlens, das irgendwo aus dem Inneren kommt … Und während ich das schreibe, merke ich, was für ein weites Feld sich allein hinter dieser Feststellung verbirgt. Zum Beispiel müssen Betrachtende erst mal lernen, dieses besondere STRAHLEN überhaupt wahrzunehmen. Das kann ganz und gar emotional passieren. Und dafür gibt’s kein Patentrezept, viele Menschen wissen leider oft gar nicht, wie das gehen soll … Der banale Rat lautet meist: „Sei achtsam!“ Oder: „Hör auf dein Bauchgefühl!“ Nur: Das ist alles andere als banal! Denn sowohl Achtsamkeit wie Bauchgefühle müssen erst mal gefunden und trainiert werden, sind oft so zugemüllt, von scheinbaren Notwendigkeiten überlagert, dass sie sich gar nicht zeigen, allenfalls ahnen lassen – darum auch schwerlich ernst genommen werden (können).
Das Bauchgefühl
Okay, Achtsamkeitstraining ist noch mal ein ganz anderes Thema. Aber ich denke, wir alle haben schon mal auf Fragen wie „Wie kommst du denn auf DIE Idee?“ achselzuckend/lapidar geantwortet: „… sagt mir mein Bauchgefühl“. Um dann vermutlich mit mindestens einer leicht hochgezogenen Augenbraue skeptisch angeguckt zu werden. Seit ich „älter“ bin, gebe ich oft solche Antworten. Und finde es dann meist recht schwierig, keine Argumente gegen diese schiefe Augenbraue zu suchen und sie – oft viel zu gestenreich – ins Feld zu führen.
Nö. Bauchgefühle lassen sich sowieso nie erklären.
Bauchgefühle sind schlimmer als der Babelsche Sprachwirrwarr – wir alle haben nämlich mindestens eins, oft sogar mehr als das. Sie sind hochempfindlich, aber ihrem Wesen nach stumm. Reines Gefühl eben. Lassen sich weder messen noch beweisen. Und können auch nur schwer miteinander kommunizieren.
Die höher hängenden Augenbrauen
Bauchgefühle stehen nur für sich, leben sozusagen in absoluter Freiheit. Darum liebe ich sie so. Denn die einzige Form, die ihnen angemessen ist, ist Musik – oder eine unendliche Flut möglicher Geschichten. Komponistin bin ich leider nicht. Doch selbst ich habe nicht immer Lust, Geschichten zu erzählen … Meistens deshalb, weil es grad so gar nicht in die Situation passen würde. Oder weil ich ahne, dass diese blöde Augenbraue gleich noch höher hängen wird, würde ich mit dem Geschichtenerzählen anfangen … Also lasse ich es – eher aus Selbstschutz denn aus Faulheit. Denn eigentlich lässt sich jedes Gefühl immer nur übersetzen … Da könnt ihr mir noch so oft „sei authentisch!“ sagen – ich kann doch immer nur über Umwege gehen. Über Musik oder Augenbrauen, Kunst in allen Variationen, Berührungen, Blicke … Am liebsten mit Geschichten.
Und was sagt uns das jetzt alles? Genau genommen bin ich in solchen Situationen gleich doppelt eigensinnig: Weil ich auf der Richtigkeit meines eher einsamen Bauchgefühls beharre. Und es noch nicht mal erklären will – zumindest nicht sofort. (Wie ich das sehr nachhaltig gelernt habe, könnt ihr übrigens hier nachlesen. Im Nachhinein eine der wichtigsten Situationen meines Lebens. Und besonders großartig war: Da wurde mit keiner Silbe von mit verlangt, dass ich dieses Bauchgefühl erkläre. Zum Glück! Hätte ich nicht gekonnt.)
Eigensinn hat ein schlechtes Image
Doch eigentlich ging es hier ja um was ganz anderes … Um das „innere Strahlen“ einer Frau, die ich vermutlich noch nicht mal kenne. Oft nehme ich so ein Strahlen nämlich im Prozess des gegenseitigen Abtastens wahr – wenn man sich zum ersten Mal begegnet. Ursula Nuber hat schon recht, wenn sie sagt: „Eigensinn hat ein schlechtes Image. Menschen mit dieser Eigenschaft kommen in der Regel nicht gut an.“ Aber das ist nur ein winziger Teil der ganzen Geschichte …
Eigensinn und Älterwerden
Nuber beispielsweise hat viel zu selten das Gegenteil im Blick. Nämlich: Was passiert, wenn ich ganz selbstverständlich eigensinnig bin? Okay, das ganze Buch will mich ja dahin bringen, es erst einmal zu werden. Aber leider nicht als „Selbstzweck“ – also, weil ich einfach gern eigensinnig bin, sondern, um das „selbstbestimmte Leben“ zu lernen. Ja, das hat – leider! – durchaus seine Berechtigung.
Aber was wäre, wenn ich ganz selbstverständlich eigensinnig wäre?
Dann sage ich vielleicht Sätze wie „Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern!“ Das ist eins meiner Lieblingszitate zum Älterwerden. Und das Eigensinnige daran ist für mich die Tatsache, mich nicht dafür zu schämen, wie kindlich-trotzig dieser Satz vielleicht wirken könnte … Die Frau, die ihn geschrieben hat, ist nämlich aus meiner Sicht ihr Leben lang dafür eingetreten, dass bereits Kinder eigensinnig sein – und dann eben als „alte Frauen“ auch bleiben – dürfen. Sie heißt Astrid Lindgren.
Unruhe stiften, unbequem sein ..
Ihr merkt schon: Für mich ist Eigensinn nichts Schlechtes, ganz im Gegenteil. Doch das ist nicht die herrschende Meinung, das betont auch Nuber: „Sie müssen damit rechnen, dass die Menschen in ihrer nächsten Umgebung irritiert und mit Unverständnis auf Ihr eigensinniges Verhalten reagieren. Das ist nicht verwunderlich, denn als Andersdenkender stiften Sie Unruhe, als Abweichler sind Sie unbequem.“ Ja! Anders denken, Unruhe stiften, unbequem sein … für mich sind das ziemlich attraktive Ziele.
Mir scheint: Gerade Ältere, die „eigensinnig“ genannt werden, stehen viel zu oft unter dem Verdacht, störrisch, uneinsichtig, egozentrisch zu sein. Soll meist bedeuten: nicht sozial kompatibel, schwer „lenkbar“, nicht kompromissfähig. Aber mal ehrlich: Worin soll der Nutzen eines 50 Jahre und länger dauernden Lebens liegen, wenn ich am Ende mit allem, was ich bis dahin gelernt, erlebt, erlitten habe, alles, was mir Freude und/oder Graus geworden ist, in einem zähen, grauen Einheitsbrei aus Kompromiss und Anpassungsfähigkeit lande? Für mich ein völlig absurder Gedanke! Mein Bauchgefühl schreit an dieser Stelle: „Dann war das alles ja ganz umsonst!“ Das ist so laut, dass ich es schon „Argument“ nennen möchte. Vor allem, weil ich sicher bin, damit nicht allein dazustehen. Da sitzen nämlich schon jede Menge alter Weiber in den Bäumen …
Ich kann es sowieso nicht allen recht machen
Natürlich möchte auch ich lieber sympathisch als unsympathisch wirken, will eigentlich auch niemanden irritieren … Aber eine der wichtigsten Lektionen meines Lebens ist ohne Frage: Ich kann es sowieso nicht allen recht machen. Nie! Never ever! Also: Versuchs besser gar nicht erst! Und wenn ich eigensinnig wirken sollte, kommt mir das grade recht: Dann werde ich selten bis nie zu Massenveranstaltungen eingeladen (die ich hasse!), niemand schickt mir den Antrag auf eine Vereinsmitgliedschaft – und selbst von Angeboten für Seniorenreisen bin ich bislang verschont geblieben. Ich werte das als gutes Zeichen. Und bin mit Absicht – gerade online – zu so vielen disparaten Themen gleichzeitig unterwegs, dass ich hoffentlich noch lang durch alle Schubladenritzen rutschen werde. So was ist für mich der erste Schritt auf dem Weg zu echtem Eigensinn. Das ist mir allerdings noch immer nicht deutlich genug – ich möchte gern noch mehr …
In eigener Sache
Wer meinen Ansatz des Eigensinns besser kennenlernen möchte, dem empfehle ich meine Buch-Trilogie. Alle drei Bücher lassen sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen. Macht Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte.
In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
In „Gelebter Eigensinn“ erzählen Menschen, wie das geht, Eigensinn zu entwickeln. Und ihn auch zu leben. Und wozu das gut sein kann. Es geht um Kunst, Mode, Ökologie und ein Autorennetzwerk, ein komplett plastikfreies, handgebundenes Buch, KI, Punk, Kühe, die documenta, Abfallvermeidung, das Älterwerden, Jobwechsel, Mut, Ekstase und Verantwortung, Glück und Coaching, höchst Individuelles und Gemeinschaftliches.
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